Wenn man heute in einem Film schick gekleidete Menschen sieht, die unbekümmert auf einer Party dicht gedrängt miteinander sprechen, lachen und tanzen, wirken die Bilder fast wie aus einer Fantasie-Welt. Die Leute tragen keine Masken und erst recht keine Jogginghosen, von Corona-Chic war noch keine Rede. Bis vor gut einem Jahr hätten auch die meisten von uns das wohl kaum getan. Heute sieht unsere Realität allerdings anders aus. Business-Outfits tragen wir maximal noch obenrum in Videokonferenzen, – wenn überhaupt. Selbst Aufsichtsräte grüßen inzwischen im Hoodie aus dem Homeoffice. Wo kommen wir denn bitte hin, wenn der Chef den ambitionierten Studenten, der sich extra Krawatte und Sakko fürs Bewerbungsgespräch zugelegt hat, im T-Shirt empfängt?

Was sich im vergangenen Frühjahr noch wie eine unfreiwillige, aber doch irgendwie willkommene Pause von den gesellschaftlichen Anforderungen an einen stets vorzeigbaren Look, den (oft selbst auferlegten) Druck, immer das neuste, coolste und schickste Outfit tragen zu müssen, eine Chance, dass die Wimpern nachwachsen und Haut und Haare sich nach Jahren mit Extensions und Make-up erholen können, anfühlte, ist nicht nur bei Fashion-Fans inzwischen einem Gefühl der modischen Perspektivlosigkeit gewichen.

Corona-Chic: Jogginghose als täglicher Begleiter?

Es ist ja nicht so, als wären Jogginghosen per se etwas schlechtes. Die wenigsten von uns halten es da mit Karl Lagerfeld, der in seinem berühmten Zitat Jogginghosen-Trägerinnen und -Trägern jegliche Kontrolle über ihr Leben absprach. Doch ohne Dinnerpartys, Konzerte, Hochzeiten, Konferenzen, Party-Nächte, Geschäftsreisen, Kaffeekränzchen, Urlaube oder zahllose andere soziale Aktivitäten gibt es nicht mehr viele Anlässe, für die man sich anziehen kann. Die Jogginghose ist für die meisten von uns zum täglichen Begleiter geworden – und das nicht erst nach Feierabend auf der Couch, sondern von früh bis spät. Komfort in allen Ehren, aber eine Jogginghose trägt ihren Zweck doch bereits im Namen. Man trägt sie zum Joggen, oder eben nach einem langen Tag – in echten Klamotten – zum Entspannen vor dem Fernseher. Aber doch bitte nicht ausschließlich!

Es mag für manche Menschen befreiend sein, sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, was sie anziehen sollen oder ob dieses Teil zu jenem passt. Für viele andere aber ist die Situation eher destabilisierend: Beim Blick in den eigenen Kleiderschrank, fühlen sich viele der Stücke, die wir einst geliebt haben, jetzt an, als stammten sie aus einem anderen Leben.

Mode kann, trotz all ihrer Schattenseiten, Freude bereiten und kreativ machen; sie kann uns das Gefühl geben, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Während diese Zeit der Isolation eine seltene Gelegenheit für uns alle sein könnte, herauszufinden, was unser persönlicher Stil ist, wenn wir uns wirklich nur für uns selbst kleiden, fühlt es sich fast schon sinnlos an, sich überhaupt anzuziehen, wenn man nirgendwo hingehen und niemanden treffen kann.

Kleidungsstil ist Ausdruck der eigenen Identität

Stil existiert schließlich nicht in einem Vakuum. Kleidung ist eine Form sich auszudrücken, aber sie ist auch von zentraler Bedeutung für unsere Identität, weil sie prägt, wie andere uns sehen. Unsere Gehirne sind so konzipiert, dass sie in Sekundenbruchteilen Urteile über unser Aussehen fällen. Auf Gedeih und Verderb entscheidet unser äußeres Erscheinungsbild – einschließlich der Kleidung, die wir tragen, ob wir gemocht oder nicht gemocht werden, ob wir erwünscht oder unerwünscht sind.

Das mag erklären, warum Mode vielleicht nicht für jede Frau ganz oben auf der Liste der Dinge steht, die sie in der Pandemie besonders vermisst. Für Mode-Fans dagegen ist der allgegenwärtige Corona-Chic bzw. der Schlamper-Look zunehmend schwer zu ertragen.

Deutsche im internationalen Ranking weit hinten

Wir Deutschen sind ja sowieso schon nicht gerade für unser außerordentliches Stilgespür bekannt. Auf der Liste der bestgekleideten Nationen der Welt von 2019 rangierten wir auf Platz 18 von 20. Herzlichen Glückwunsch! Wenn wir nicht anfangen dem Trend zur modischen Verrohung gegenzusteuern, dürfte uns die rote Laterne beim nächsten Ranking sicher sein. Und das ist keine Frage von Geld. Weit vor uns rangieren beispielsweise Indien (Platz 6) und Brasilien (Platz 10) – zwei Länder, die nicht gerade für großen Reichtum in der Bevölkerung stehen.  Auch mit einem kleinen Budget kann man sich problemlos eine vernünftige Garderobe leisten. Man muss es nur wollen!

Das Schlimme ist: selbst wenn sich Gelegenheiten bieten, das Haus zu verlassen – sei es zum Einkaufen, für den Gang zum Arzt oder dem (glücklicherweise wieder erlaubten) Besuch beim Friseur – erachten es viele Leute offenbar nicht mehr für nötig, sich „normale Kleidung“ anzuziehen. Wir reden hier nicht davon, sich außerordentlich schick zu machen, sondern einfach mal nur schon die Jogginghose gegen eine Jeans zu tauschen. Stattdessen sitzen den Ärzten die Patienten inzwischen im gleichen häuslichen Schlamper-Look gegenüber, in dem sie abends auf der Couch fläzen. Das ist nicht nur wirklich (in den allermeisten Fällen) kein schöner Anblick, sondern schlicht ein Zeichen von mangelndem Respekt dem Arzt gegenüber, der ja schließlich auch nicht einfach den Kittel über den Pyjama geworfen hat. Das ist jedenfalls zu hoffen, sicher kann man sich da ja heute nicht mehr sein.

Ein ungeschriebenes Mode-Gesetz besagt: Wenn man ein Kleidungsstück sechs Monate lang nicht getragen hat, ist es Zeit, es auszusortieren. Damit könnte man einen einst beneidenswert kuratierten Kleiderschrank, inklusive Schuhen und Accessoires wohl zu 90 Prozent in die Tonne treten.

In den sozialen Medien beklagen Prominente und Normalo-Nutzer gleichermaßen, dass die Pandemie ihren Stil zerstört hat. „Ich habe den Zweck von 90% meiner Kleidung vergessen. Nur drei Hemden machen überhaupt noch Sinn”, beklagte etwa die amerikanische Radiomoderatorin Jess McIntosh auf Twitter.

Da man nirgendwo Partykleider, High Heels – oder sogar “echte Hosen” – tragen kann, stapeln sich diese Kleidungsstücke in den Lagerhäusern und stellen viele Einzelhändler vor die existenzbedrohende Frage, was sie mit all dem überschüssigen Inventar anfangen sollen. Wiederverkaufsseiten freuen sich dagegen über eine Flut von Artikeln, die die Leute aufgrund von mangelnden Einsatzmöglichkeiten und viel Zeit fürs Ausmisten mehr oder weniger frustriert veräußern.

Die Modeindustrie, die einst diktierte, was wir alle eine ganze Saison im Voraus tragen würden, erlebt gerade ihre eigene existenzielle Krise. Viele Designer haben die Pandemie zum Anlass genommen, das Tempo ihrer Kollektionen zu verlangsamen, weniger Modelle zu produzieren und die Auslieferung saisonaler Teile wie Mäntel und Badeanzüge mit dem Beginn des Herbstes bzw. des Sommers zu synchronisieren, anstatt sie Monate im Voraus in den Verkauf zu bringen.

Doch auf der anderen Seite kann der Mangel an Sichtbarkeit für manche Frauen auch positiv sein, vor allem für jene, die durch gesellschaftliche Schönheitsnormen benachteiligt wurden. Im Idealfall kann Corona sogar dazu führen, dass wir endlich nur nach unseren Fähigkeiten und unserem Können beurteilt werden und nicht danach, wie wir aussehen.

Andererseits ist der Mensch nun mal ein visuelles Wesen – die Hälfte unseres Gehirns ist der Verarbeitung visueller Informationen gewidmet. Wenn wir keine Möglichkeiten haben, uns der Welt zu präsentieren und Feedback zu erhalten, verlieren wir ein wichtiges Instrument zur Auslebung unserer Identität.

Das gilt nicht nur für Menschen, die die vergangenen Monate zuhause in Jogginghose gefristet haben. Auch die unverzichtbaren Arbeitskräfte, die zu großen Teilen in Kitteln und Uniformen gegen die Pandemie und ihre Auswirkungen ankämpfen, fehlt die Gelegenheit, sich zu schminken oder ihre Arbeitskleidung für einen Abend gegen ein schickes Party-Outfit zu tauschen, um sich daran zu erinnern, wer sie außerhalb ihrer zermürbenden Arbeit sind.

Und wie wird das Outfit nach Corona?

Das Gefühl von Selbstbewusstsein, das uns ein tolles Outfit verleiht, ist in der Isolation schwer zu erreichen. Und auch jenseits von Homeoffice und Ausgangssperre stellt man sich unweigerlich die Frage: was wird aus der Mode nach Corona? Was, wenn das Lieblingskleid nicht mehr das Lieblingskleid ist, wenn das Ausgehen mit Freunden wieder sicher ist? Werden wir modisch so verroht sein, dass Jogginghosen & Co. endgültig für jeden Anlass gesellschaftsfähig sind? Wenn wir den Anspruch sich vernünftig anzuziehen an andere wie auch an uns selbst verloren haben? Es ist doch schon traurig genug, dass es kaum noch einen triftigen Grund gibt, das Haus zu verlassen. Sollten wir da nicht zumindest die wenigen Gelegenheiten, die sich uns bieten, nutzen und dem Corona-Chic wenigstens für ein paar Stunden eine wohlverdiente Pause gönnen?

Warum nicht einfach mal in Bluse und Blazer spazieren gehen? Oder in Pumps durch den Supermarkt stöckeln? Es mag vielleicht overdressed sein, aber wenn underdressed „the new normal“ ist, ist es höchste Zeit, diesem Trend der modischen Verwahrlosung mit ein bisschen Extravaganz gegenzusteuern. Dem Straßenbild jedenfalls würde ein bisschen Abwechslung vom Einheits-Schlamper-Look guttun.

Keiner kann sagen, was die nächsten Monate bringen werden, wie lange Corona unser Leben noch bestimmen wird und wie unser (modischer) Alltag jenseits der Pandemie aussehen wird – hoffen kann man nur, dass ein Paar schicke High Heels und Kleider wieder ein fester Bestandteil davon sein werden! Und vergessen wir nicht: das haben wir auch selbst in der Hand – und im Schrank!