Ständig an der eigenen Figur herumzumäkeln, ist für viele Frauen leidvoller Alltag. Trotz aller „body positivity-Kampagnen“, einiger Vorbilder, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen und dem unbedingten Willen, sich nicht zu vergleichen – vielen gelingt es nicht. Was für einige „nur“ eine anstrengende Alltagserfahrung ist, kann für andere wiederum in eine krankhafte Sucht umschlagen. Eine dieser Süchte heißt Bulimie, oder Ess-Brech-Sucht. Dabei folgt auf anfallsweise unkontrollierte Essattacken selbst herbeigeführtes Erbrechen. Zum weitaus überwiegenden Teil sind Frauen von dieser Sucht betroffen. Eine von ihnen war Andrea Ammann. Die 52-jährige Schweizerin hat nach eigenen Angaben zwei Jahrzehnte unter Bulimie gelitten. Heute will sie anderen Betroffenen helfen, bietet Seminare an, teilt ihre Erfahrungen und ihren Weg aus dieser Sucht.

Es muss nicht immer zu so dramatischen, krankhaften Entwicklungen kommen. Viele, vor allem Frauen, fühlen sich durch das ständige Thema Essen in ihrem Denken, ihrem Leben eingeschränkt. Falls sie es denn überhaupt noch wahrnehmen, wie häufig ihre Gedanken tatsächlich um den ständigen Kreislauf von Strenge und Völlerei kreisen. Doch wie kann man aus dieser Spirale herauskommen, wie eine einigermaßen entspannte Haltung entwickeln?

Lernen, mit Frust, Langeweile und Stress umzugehen

Nach vielen Erfahrungen mit Klinikaufenthalten und psychologischer Beratung hat Andrea Ammann am Ende den Weg aus der Sucht gefunden. Was sie nach all dieser Zeit -die ihr nach eigenen Angaben langfristig nicht gesundheitlich geschadet hat- geholfen hat, war die Erkenntnis, dass es nie auf das Äußere, sondern immer nur auf das Innere ankommt. Für Ammann ist es ganz wichtig, dass die Frauen, die zu ihr kommen, lernen, mit Frust, Angespanntheit im Alltag, mit Stress und Langeweile umzugehen, ohne die Gefühle mit Essen zu betäuben. „Die Frauen sollen lernen, eine liebevolle Verbindung zu ihrem Körper aufzubauen“, erklärt sie.

Bewusst Rituale zu unterbrechen, Neues zu lernen, brauche Zeit. 30, 60, 90 Tage mindestens, um einen neuen Ablauf zu etablieren. Aus dem Gedanken herauszukommen, sich bestrafen zu müssen, wenn man wieder „gesündigt“ hat, sondern einfach zu schauen, wie der nächste Tag denn so wird, müsse ebenso erst wieder gelernt werden. „Denn nicht das Essen ist in der Essstörung das Problem“, weiß Ammann. Vielmehr laufen viele verschiedene Ebenen zusammen, die aufgearbeitet werden wollen: Ja sagen, wenn man Nein meint, Kontrollverlust, schwarz-weiß-Denken, der Gedanke, wertlos zu sein. Es könne helfen, ein Dankbarkeitstagebuch zu schreiben. „Darin kann man beispielsweise jeden Abend drei Dinge hineinschreiben, auf die man stolz ist oder wofür man dankbar ist“, sagt sie. Eine gute Übung, um sich zu erden oder einfach ein Gefühl zu entwickeln, wie gut es einem tatsächlich geht.

Inzwischen habe sie kein Problem mehr, wenn sie „etwas mehr“ isst, als sie benötigt. So wie letztens, als sie in einem Hotel gegessen hat. „Ich war schon voll, aber ich habe aus Lust noch etwas gegessen“, erzählt sie. Aber sie weiß jetzt, dass das kein Problem mehr ist. Ebenso habe sie kein Problem mit ihrem Alter und wie sie das verändere. Sie sei 52 und keine 20 mehr. „Ich habe Falten, Besenreiser und sehe so aus, wie ich aussehe, aber deshalb trage ich doch kurze Hosen“, erzählt sie lachend. Sie sei da extrem entspannt, aber auch das sei nicht immer so gewesen.

Menschen, die ihren Rat suchen, -zum überwiegenden Teil Frauen- kommen aus vielerlei gesellschaftlichen Schichten. Dazu gehören Ärztinnen, aber auch Fitness-Influencer, die anderen in den Sozialen Medien vorgaukeln, besonders fit, gesund, energiegeladen zu sein. In Wahrheit aber führen sie einen täglichen Kampf mit ihrem Körper. Sie kommen zu Ammann, erzählt die Schweizerin, weil es dann am Ende doch nur die Oberfläche sei, die gerade in den Sozialen Medien verkauft werde.

Am Ende helfe, gnädiger mit sich zu sein und diese Reise aus ungesunden Essgewohnheiten anzutreten, Schritt für Schritt. Diese Veränderung brauche Zeit und Geduld. Was Jahre, Jahrzehnte „geübt“ worden sei, werde nicht über Nacht verschwinden. Vielleicht hilft aber ein kleiner Denkanstoß: Wenn Hunger nicht das Problem ist, dann ist Essen nicht die Lösung!

Andrea Ammann